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Das Schweigen.

Heute habe ich eine Verabredung mit Theresa. Die alte Dame mit ihren 89 Jahren wohnt im Seniorenpark Carpe Diem.
Sie erzählt mir am Telefon, dass das heutige Treffen für sie sehr wichtig sei. Aber Theresa hält ihre Angelegenheiten immer für wichtig. Manchmal ruft sie uns an, sagt: „Frau Rose, ich muss ganz schnell einmal ihren Mann in Anspruch nehmen, er muss mir Briefmarken holen, damit ich meine Post abschicken kann.“ Ich sage: „Er ist noch unterwegs, wenn er kommt, sage ich ihm sofort Bescheid.“ „Ja, machen sie das bitte“, sagt sie dann.

Theresa ist in einer Adelsfamilie bei Dresden mit einer Schwester und einem Bruder aufgewachsen. Sie hat viel aus ihrem Leben gemacht. Als Frauenärztin hat sie praktiziert, drei Söhne mit ihrem Mann, der ebenfalls als Arzt mit eigener Praxis selbstständig war, großgezogen.

Als wir zum Altenheim kommen, ist die sonst so gelassene Frau total aufgeregt. Ich sage: „Liebe Frau Theresa, was gibt es so Dringendes?“

Theresa sagt: „Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, immer wieder bin ich aufgewacht und habe mir gesagt: Du musst unbedingt mit lieben Leuten sprechen und sagen, was du all die Jahre verschwiegen hast. Ob es Schuld war, die ich auf mich geladen habe, oder ob es Schutz war, darüber können andere urteilen – ich muss es erzählen. … Bitte, liebe Familie, bereiten sie sich auf einiges vor und lassen sie Gnade vor Recht ergehen.“

Dann erzählt sie:

Einiges habe ich ihnen bereits von meiner Flucht mit dem Flüchtlingstransport nach Rügen erzählt. Wir mussten vor den russischen Soldaten fliehen. Wir, das waren meine Mutter, meine Schwägerin Marianne mit einem Baby von vier Monaten und ich. Mein Vater und mein Bruder wurden bei dem Überfall von den Russen in Gewahrsam genommen. Meine ältere Schwester hatte einen Landwirt geheiratet und wohnte nun bei Dresden.
In unserem großen Haus und in den Stallungen wurde geplündert, die Tiere wurden frei gelassen oder geschlachtet. Die Wertgegenstände wie Porzellan und wertvolle Bilder, die wir noch nicht in Sicherheit gebracht hatten, wurden zerstört, ebenso die kostbaren Möbel. Wir hatten nur das, was wir noch am Leibe trugen.

Der Weg nach Rügen war beschwerlich. Es gab immer wieder Aufenthalte, Luftangriffe ließen uns die Schutzräume aufsuchen. Endlich auf Rügen angekommen suchten wir eine Unterkunft. Die Einheimischen, die auf den Transport aufmerksam gemacht wurden, standen an der Kirche.

Jetzt wurde gefragt: „Es ist ein Zimmer zu vergeben – bei einer Ärztin.“ Ich meldete mich und sagte: „Wir sind drei Frauen und ein Baby, ein Zimmer würde uns reichen. Im übrigen bin ich auch Ärztin und habe in einem großen Krankenhaus in Dresden gearbeitet. Vielleicht kann ich sie unterstützen.“
Wir Drei und das Baby bekamen das Zimmer bei der Ärztin Amanda.

Wir waren gerade in der Unterkunft angekommen, da fragte ich sofort meine Vermieterin, die Ärztin: „Haben sie Medikamente für den Kleinen? Er hat hohes Fieber und ist total geschwächt.“ Aber leider waren keine Medikamente zu bekommen. Die Ärztin Amanda sagte: „Es tut mir so leid.“
Die Milch für das Baby Alexander bekamen wir kostenfrei vom nahegelegenen Bauern.

Trotz aller Liebe und Fürsorge verstarb Alexander nach drei Tagen. Meine Schwägerin weinte und klagte: „Warum musste das Kind sterben? Er hat doch noch gar nicht richtig gelebt! Dem Vater Theodor können wir nichts vom Tode seines Sohnes schreiben, denn falls er den Brief bekommen sollte, würde er allen Mut verlieren. Aber die Hoffnung, dass sein Kind lebt, wird auch ihm Auftrieb geben.“

Unser Nachbar hatte einen schönen weißen Karton aufgetan, dort legten wir Klein-Alexander hinein. Amanda kannte einen Pastor und so bestatteten wir alle zusammen den kleinen Engel. Der Herr Pastor lud uns dann auf einen Kaffee in sein Haus ein. Es war eine traurige Zeit, von Vater und Bruder gab es keine Lebenszeichen und nun war auch das jüngste Familienmitglied zum Liebhaben von uns gegangen; er war der Nachfolger und der Familienerbe.

Die Zeit schritt voran, Wind und Regen hatten das Leben auf der Insel geprägt, es wurde immer kälter. Meine Schwägerin wurde immer trauriger und Depressionen machten ihr zu schaffen. Meine Mutter trug alles mit Gelassenheit. Ich besuchte mit Amanda manchen Patienten und wir sprachen anschließend über die Behandlung. Medikamente gab es nicht.

Dann kurz, vor Weihnachten, wurden wir zu einer kranken Frau gerufen. Sie hatte ein kleines Baby, erst vor ein paar Wochen geboren. Es war ein gesunder Junge. Die Mutter konnte es nicht versorgen, denn sie konnte sich selbst nicht auf den Beinen halten. Amanda sagte zu mir: „Theresa, können wir den Kleinen nicht vorübergehend mit zu uns nehmen? Deine Schwägerin könnte den Kleinen doch versorgen.“
„Bist Du verrückt, sie kann sich selbst kaum versorgen. Wenn meine Mutter nicht bei uns wäre, wüsste ich nicht wie es gehen sollte.“
„Theresa, lass es uns doch versuchen“, meinte Amanda, „denn hier bei der kranken Frau kann das Kind nicht länger bleiben. Es ist so ein hübsches Kind und es verdient doch auch gut versorgt zu werden, und deine Schwägerin hätte wieder eine Aufgabe.“
„Was sagen wir der jungen Frau?“ fragte Theresa.
„Wir sagen die Wahrheit.“ meinte Amanda, „Die junge Frau ist sicher froh, wenn ihr Kind gut versorgt wird.“

Gesagt getan! Der Mutter wurde der Plan mitgeteilt, aber sie reagierte nicht. Nun wurde das Baby gut eingepackt, Theresa nahm den Kleinen liebevoll auf den Arm und ging zum Auto.

Die Vermieterin hatte versprochen, alle zwei Stunden nach der jungen Mutter zu sehen und ihr etwas Tee und Essbares zu reichen. Wir fragten: „Wie heißt die Frau und warum ist sie hier?“
„Sie hat sich mit Schneider vorgestellt und erzählte, dass ihr Mann erschossen wurde. Sie ist geflüchtet. Woher sie kommt weiß ich nicht. Sie konnte vor Heiserkeit und Husten nicht viel sprechen, geschweige denn sich aufrecht halten. Ich hatte Mitleid und habe sie und den Kleinen aufgenommen. Um die Mutter und den kleinen Jungen kann es einem leid tun“, sagte sie noch.

Amanda sprach: „Zum Abend komme ich wieder vorbei und hoffe es geht der Patientin dann besser.“

In unserer Wohnung wurde der Kleine bestaunt und meine Mutter sowie meine Schwägerin schaukelten das Baby in ihren Armen.
„Wie heißt der Kleine?“ fragte meine Schwägerin.
„Wir wissen es nicht“, sagten wir beide. „Die Kinds-Mutter ist krank und kaum ansprechbar.“

Da sagte meine Schwägerin spontan: „Ich nenne ihn Alexander“.
Meine Mutter, Amanda und ich waren erstaunt. Der Name ihres verstorbenen Kindes? Wir sagten aber nichts.

Amanda und ich besuchten die junge Frau morgens und abends und auch, wenn die Zeit es zuließ, noch zur Mittagszeit. Für die Versorgung wollte Theresa der Vermieterin Geld geben, diese sagte aber: „Für die Versorgung brauche ich nichts, die junge Frau hat mir genug Geld gegeben.“

Ein trauriges Weihnachten war vergangen, nichts hatte sich geändert. Oder doch? Meine Schwägerin Marianne war wieder froh und glücklich. Sie liebte ihren kleinen Alexander über alles und der Kleine dankte es ihr mit guter Gesundheit und strahlendem Lächeln.

Am 12. und 13. Februar 1945 fand der größte Luftangriff in der Geschichte auf Dresden statt. Englische und amerikanische Bomber warfen ihre tödliche Fracht über Dresden ab. Alles wurde zerstört, viele Menschen starben oder wurden verletzt, das Entsetzen war groß.

Ärzte wurden händeringend gebraucht. Ich bekam die Nachricht, sofort wieder nach Dresden zu kommen. „Was machen wir mit dem Baby?“ fragte meine Schwägerin Marianne, „Und wie geht es der Mutter?“

Amanda sagte: „Die Mutter kann das Baby nicht versorgen, so krank wie sie ist. Ich kann mich auch nicht um das Kind kümmern. Ich habe zu viele Patienten, denn ich bin hier die einzige Ärztin auf der Insel. Ihr müsst das Kind mit nach Dresden nehmen,“ sagte Amanda.

„Aber wir haben keine Papiere“, meinte Theresa besorgt.
„Ihr habt doch den Personalausweis, ausgestellt auf Alexander“, sagte Amanda. „Baby ist Baby. Die fehlenden Wochen fallen nicht auf.“

Wir drei Frauen waren einverstanden. „Amanda, wir werden dich immer informieren und du uns bitte auch. Wie es Frau Schneider geht interessiert uns natürlich auch. Wir bleiben in Verbindung“, sprach ich.

Mit Hilfe eines englischen Leutnants kamen wir drei Frauen gut in Dresden an. Dann sahen wir schon an der Stadtgrenze das zerstörte Dresden. Trümmer über Trümmer sahen unsere Augen und unsere Tränen liefen ohne Unterlass. Menschen saßen auf den Steinen ihrer zerstörten Häuser und konnten nicht fassen, was hier passiert war. Sie hatten gerade noch ihr Leben retten können.

Zwei Tage nach dem Angriff fiel auch die Frauenkirche in sich zusammen, der Druck der Trümmer war zu groß und die Steine hielten nicht dagegen.

In unser altes Zuhause konnten wir nicht einziehen. Das Haus, das außerhalb von Dresden liegt, hatte nicht viel Schaden genommen, es war aber vom russischen Militär besetzt.

Ich bekam ein Zimmer im Krankenhaus, in dem ich auch arbeitete.
Mutter und Marianne mit Baby zogen nach Leverkusen, in die Heimat meiner Mutter. Dort war noch ein Haus mit Garten und Obstbäumen vorhanden, das sie nutzen konnten.

In Dresden versuchte ich telefonisch, wie auch mit Briefen, Amanda zu erreichen, aber eine Antwort gab es nicht. Ich fragte im Pfarramt nach, aber dort hatten die Mitarbeiter gewechselt, und man konnte mir nicht helfen. Zur Sicherheit hinterlegte ich meine Adresse.
Nach einiger Zeit kam dann doch eine Antwort von Amanda. Sie schrieb: „Es wurden noch mehr Flüchtlinge nach Rügen evakuiert und ich selbst wurde bei so viel Arbeit und Betreuung der Patienten auch krank. Nun geht es mir wieder besser.“ Aber sie teilte uns auch mit, dass die leibliche Mutter von Alexander, die sich unter dem Namen Schneider vorgestellt hatte, leider verstorben war. Uns machte die Nachricht sehr traurig, jetzt war der Kleine Waise geworden, aber nun hatte er ja uns.

Der Altenberger Dom steht nicht weit von unserem Zuhause entfernt. Wir, meine Schwägerin, meine Mutter und ich, Theresa (ich hatte mir im Dresdener Krankenhaus frei genommen), ließen unseren Kleinen auf den Namen "Alexander Theodor von Wiesen“ taufen.

Zwei Jahre später kamen Vater Ferdinand und Sohn Theodor aus der Gefangenschaft zurück. Alle freuten sich beim Wiedersehen in Leverkusen, wo jetzt die Familie lebte. Die Männer waren abgemagert und schwach, aber ansonsten wohlauf. Aus dem Kleinkind Alexander war ein pfiffiger Junge geworden der inzwischen selbstverständlich zur Familie gehörte.

„Ja“, sagt Theresa, „keiner kam auf die Idee, dass es anders sein könnte. Es passte alles so wunderbar! Die schönen blauen Augen des Kindes passten genau in unsere Familie. Wir – also meine Mutter, Marianne und ich – haben nie mit Anderen und auch nicht in der Familie über das Geschehene gesprochen. Es war unser unausgesprochenes Geheimnis, über das wir bis heute schweigen.

Jahre später konnten mein Vater und mein Bruder das ehemalige Haus und die Gebäude zurückkaufen und Alexander das Familienerbe weiter führen.“

Im Seniorenheim bei Theresa sind mein Mann und ich bedrückt, können aber keine Schuldzuweisung aussprechen, denn das Leben stellt oft große Anforderungen an uns und wir müssen diese irgendwie bewältigen.
Wir reichen uns die Hände, wissend, dass dieses große Vertrauen uns für immer verbindet, die Geschichte aber auch von uns erst einmal verarbeitet werden muss.

[Diese Geschichte ist inspiriert von den Erzählungen einer alten Freundin, im Hinblick der ungeplanten „Adoption“ aber rein fiktiv.]

Rose Goldmann, September 2025


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